KUBICKI-Kolumne: Das doppelte migrationspolitische Versagen

KUBICKI-Kolumne: Das doppelte migrationspolitische Versagen

Gast (nicht überprüft)

Sa., 02.08.2025 – 12:00

Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:

Ich erinnere mich gut an die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag am 31. Januar 2024, bei der die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi beschrieb, wie sich ihr Leben in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023 verändert hat:

„Mein Alltag hier in Deutschland ist seitdem geprägt von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, von vermehrten antisemitischen Vorfällen, von Ängsten, von Gesprächen, die mit ‚Ja, aber‘ beginnen, oder von dem so lauten Schweigen aus der Mitte der Gesellschaft. Mir selbst wurden Lesungen in Schulen kurz nach dem 7. Oktober abgesagt – da für meine Sicherheit nicht gesorgt werden konnte. Die letzten Male sprach ich in Schulen unter Polizeischutz.“

Frau Szepesis Ausführungen trafen viele der damals im Plenarsaal des Deutschen Bundestages Versammelten direkt ins Mark. Die Eskalation der antisemitischen Bedrohung in Deutschland war zwar sicherlich schon zuvor niemandem entgangen, aber in diesem Rahmen entfaltete die Schilderung eine eigene emotionale Wucht, der man sich nicht entziehen konnte.

Erst recht nicht, als sie ausführte:

„Es schmerzt mich, wenn Schüler jetzt wieder Angst haben, in die Schule zu gehen – nur weil sie Juden sind. Es schmerzt mich, wenn meine Urenkelkinder immer noch von Polizisten mit Maschinengewehren beschützt werden müssen – nur weil sie Juden sind. Ich wünsche mir, dass nicht nur an den Gedenktagen an die ermordeten Juden erinnert wird, sondern auch im Alltag an die lebenden. Sie brauchen jetzt Schutz.“

Es gibt von dieser Rede eine stenographische Niederschrift, aber naturgemäß kann sie nicht wiedergeben, wie viele Tränen in dem Moment im Plenarsaal und auf den Besuchertribünen aus Anteilnahme oder Scham vergossen wurden. Auch wer damals nicht vor Ort war, kann aus den Videoaufnahmen der Rede erahnen, dass es viele gewesen sind.

Das war vor anderthalb Jahren, und wir müssen feststellen, dass sich die Situation nicht wirklich verbessert hat. In dieser Woche erschien ein Beitrag von Gunnar Schupelius in der Bild, in dem er von seinen jüdischen Nachbarn erzählt, die die alltägliche Angst in Berlin nicht mehr aushalten und Deutschland verlassen werden. Zu häufig sind die großen und kleinen Anfeindungen, und zu alltäglich die Angst im öffentlichen Raum. Es sind Geschichten, die man vielfach hört – wenn man sie denn hören will. Und die anekdotische Evidenz deckt sich hier leider brutal mit den offiziellen Zahlen. Im Vergleich zu 2022 haben sich die antisemitischen Straftaten in Deutschland im letzten Jahr mehr als verdoppelt. An jeder dritten bis zweiten Hochschule im Land sind antisemitische Vorfälle dokumentiert, und auf Kundgebungen wird schamlos „Tod den Juden“ gerufen.

Wenn man über den Antisemitismus – und insbesondere über sein Erstarken nach dem 7. Oktober 2023 – spricht, gibt es bei vielen eine seltsame Erwartungshaltung, sich zu Israel und Gaza zu positionieren. Es sind die „Ja, aber“-Einwendungen, die Eva Szepesi in ihrer Rede vielleicht auch vor Augen hatte. Darum lassen Sie mich in aller Deutlichkeit festhalten: Wie auch immer Sie zur israelischen Politik stehen und wie Sie die Situation in der Westbank oder im Gazastreifen beurteilen – es spielt keine Rolle. Es ist für diese Debatte komplett irrelevant, ob man die israelische Politik gutheißt, verteufelt oder ihr gleichgültig gegenübersteht. Es sind unsere Nachbarn, die bedroht werden. Wer von diesem simplen Kern den Blick ans östliche Mittelmeer lenken will, ist längst Teil des Problems.

Leider nimmt es immer weiter zu. Seit dem Angriff der Hamas sind einige Diskussionsformate im deutschen Fernsehen zum Antisemitismus geführt worden, und immer wieder konnte man beobachten, wie die Mitdiskutanten mehr oder weniger subtil genötigt wurden, sich zum Krieg im Nahen Osten zu positionieren. Der plumpe, vulgäre und hässliche Antisemitismus der Straße wird von linken Möchtegernintellektuellen mit dem „Ja, aber in Gaza…“-Reflex in solchen Sendungen sehr erfolgreich flankiert – denn scheinbar haben sie ja nichts miteinander gemein. In den gewaltsamen antisemitischen Aktionen an den Universitäten fließen beide Strömungen dann aber auch wieder recht offen ineinander über.

Nein, wer sich mit der Frage beschäftigen will, warum unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger kein sicheres und freies Leben mehr führen können, muss nicht in den Nahen Osten, sondern auf unser Land schauen.

Als ich geboren wurde, lebten in der Bundesrepublik und in der DDR schätzungsweise gerade noch zwischen 20.000 und 30.000 Juden. Der Rest der 500.000 bis 600.000 Juden, die noch zwanzig Jahre zuvor in Deutschland lebten, wurde ermordet oder war geflohen. Es war in den 1950er-Jahren daher kaum vorstellbar, dass Deutschland 70 Jahre später die drittgrößte jüdische Gemeinde in Europa beheimaten würde. Dass es dennoch so kam, ist das Ergebnis von Migration. Es war eine politisch gewollte Migration, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Zuzug von über 200.000 Menschen jüdischer Abstammung aus den GUS-Staaten ermöglichte. Trotz mancher Schwierigkeiten und Herausforderungen wird dieser Zuzug durchaus positiv bilanziert. Und das, obwohl es keine Form von qualifizierter Migration war, sondern auf Grundlage des „Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge“ geschah, das für die jüdischen Einwanderer entsprechend anwendbar erklärt wurde. Aber wie kann die Bilanz positiv ausfallen, wenn diejenigen, die vor 20 bis 30 Jahren zu uns gekommen sind, kein freies und selbstbestimmtes Leben mehr führen können, weil sie ihre jüdische Identität im öffentlichen Raum verstecken oder ihre Kinder hinter hohen Mauern und unter Maschinengewehrschutz beschulen lassen müssen? Wohl kaum. Die Wahrheit ist: Wir lassen diese Menschen im Stich.

Wie kann es sein, dass unsere Gesellschaft so beim Schutz ihrer jüdischen Mitglieder versagt und ihre Situation nicht einmal mehr groß thematisiert wird? Es fängt damit an, dass wir uns nach wie vor scheuen, das Problem überhaupt richtig zu identifizieren. Der Antisemitismus im Land – vor allem der gewaltaffine – ist in großen Teilen ein importierter. Dies festzustellen bedeutet nicht, dass man den autochthonen Antisemitismus in unserem Land in Abrede stellt. Auch die Erkenntnis, dass der islamisch geprägte Antisemitismus der Straße sich in unguter Weise mit dem links motivierten Antisemitismus paart, heißt nicht, dass man den rechtsextremistisch geprägten vergisst.

Aber die antisemitische Eskalation in Deutschland und ganz Westeuropa seit dem 7. Oktober 2023 ist vor allem islamistisch geprägt. Das zu verschweigen, muss wie eine Ermutigung für die Täter wirken – und so wird es wohl auch verstanden. Hier offenbart sich ein doppeltes migrationspolitisches Versagen. Zum einen, weil wir feststellen müssen, dass es in Teilen der Zugewanderten ein tief sitzendes Ressentiment gegen Juden gibt, von dem wir nicht deutlich genug gemacht haben, dass es unvereinbar ist mit unserer bundesrepublikanischen Identität. Deutlich machen heißt in diesem Zusammenhang aber nicht, markige Ansagen in die Welt zu setzen und dann zu denken, es sei damit erledigt. Vielmehr bedeutet es, schon beim Zuzug klarzumachen, dass Integration auch eine Bringschuld ist. Zur erfolgreichen Integration gehört die Akzeptanz und der Respekt gegenüber allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, egal welcher Religion, Abstammung oder sexuellen Orientierung. Wer dazu nicht bereit ist, sollte nicht den Eindruck bekommen, in Deutschland ein ruhiges und zufriedenes Leben führen zu können. Was leider bisher der Fall ist.

Des Weiteren müssen Parallelgesellschaften, in denen Antisemitismus und Homophobie weitgehend unbehelligt vor sich hin gären, aufgebrochen werden. Ich werde nicht müde, hier den skandinavischen Weg zu bewerben: Wenn Deutschkenntnisse in Schulen, Kriminalitätsbelastung und Erwerbsquote bestimmte Kriterien nicht erfüllen, muss der weitere Zuzug in bestimmte Stadtviertel ausgeschlossen und eine bessere soziale und kulturelle Durchmischung angestrebt werden. Es ist ja keineswegs so, dass muslimische Einwanderung per se zu Integrationsversagen führen muss. Im Gegenteil: Ob in Kunst, Kultur, Sport, Politik oder Wirtschaft – in jedem Bereich finden sich inzwischen herausragende Beispiele für erfolgreiche deutsche Biografien mit Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern. Und das ist erst einmal fantastisch und zeigt: Es geht. Wer noch mehr solcher Beispiele möchte, wird nicht umhinkommen, sich einzugestehen, dass das Laissez-faire der Migrations- und Integrationspolitik des letzten Jahrzehnts (und teilweise darüber hinaus) nicht die Lösung, sondern das Problem selbst darstellt.

Das zweite migrationspolitische Versagen betrifft die jüdischen Zuwanderer selbst. Zur Erinnerung: Ihre Migration nach Deutschland war politisch gewollt, sie erfolgte regulär als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“. Und obwohl sie seit Jahrzehnten in Deutschland leben und viele von ihnen anhand der üblichen Parameter als voll integriert gelten müssen, haben wir es zugelassen, dass in unserem Alltag ein Klima entstanden ist, in dem sie sich nicht mehr sicher oder heimisch fühlen können. Auch das ist migrationspolitisches Versagen – ein besonders bitteres noch dazu, denn es zeigt, dass Deutschland in gewisser Weise auch bei der regulären Migration versagt hat.

Die Jüdische Gemeinde in Berlin hat jetzt sogar eine Initiative für sogenannte „Welcome Places“ geschaffen – Orte, an denen sich jüdische Menschen nicht bedroht fühlen müssen. Diese lobenswerte Initiative ist für eine Gesellschaft, die frei und tolerant sein möchte, aber eine kaum zu ertragende Anklage. Wer sich damit abfindet, gibt den von Toleranz geprägten Kern unserer Werteordnung preis.

Asylpolitik
Bürgerrechte
Demokratie
Einwanderung
Flüchtlingspolitik
Sicherheit

Wolfgang Kubicki

Über Antisemitismus in Deutschland und die notwendigen Konsequenzen für die Migrationspolitik.